Stephen Shore, Das Wesen der Fotografie

„Eine Fotografie hat Ränder, die Welt nicht.“ Dies ist ein Satz aus dem einzigartigen Buch „Das Wesen der Fotografie“ von Stephen Shore. Es gibt kaum eine höhere Kunst, als die wichtigsten Dinge in einfachen Sätzen zu sagen.

Das Buch von Stephen Shore ist Ausdruck dieser Kunst. Ich kenne kein zweites Buch, welches so klar und gut das „Wesen“ der Fotografie zeigt.

Stephen Shore hat in diesem Buch Fotos sehr vieler weltbekannter Fotografinnen und Fotografen als Beispiele gesammelt und bespricht sie. Es ist für mich aktuell DAS Buch für Menschen, die wirklich verstehen wollen, wie eine Fotografie im Kopf entsteht. Dafür gibt es Gründe.

Dieses Buch vermittelt das sinnliche und geistige Instrumentarium für gute Bilder. Zugleich lernt man hier, ein Bild zu sehen.

Wenn wir uns im Angesicht der Massen an digitalen Fotos die Frage stellen, wieviele davon wirklich im Kopf gestaltet und dann umgesetzt worden sind, dann wird deutlich, wie wenig es nur sein können und welcher Aufwand dafür erforderlich ist.

Stephen Shore hat ein Buch gestaltet, welches auch durch seine didaktische Aufbereitung brilliert. Es gibt kurze gedankliche Abschnitte und Fotos, die jeweils das Merkmal zeigen. Dadurch kann man in diesem Buch blättern und sich Elemente des Buches langsam aneignen.

Fast spielerisch erlaubt das Buch, sich die einzelnen Doppelseiten anzuschauen und dabei den Gedanken und den Elementen des fotografischen Sehens  zu begegnen. Und wer dann soweit ist, dass auch bei ihr oder ihm die Bilder im Kopf entstehen, der merkt irgendwann, wie wichtig dieses Buch sein kann.

Auf viceland.com hat sich Shore zu diesem Buch geäußert: „Das Buch ist genau genommen auf Grundlage eines Kurses von mir entstanden, in dem es um „fotografisches Sehen“ ging. Ich benutzte zunächst John Szarkowskis Buch The Photographer’s Eye als Unterrichtstext. Aber eins der Kapitel passte nicht zu der Art, wie ich unterrichten wollte, also schrieb ich stattdessen ein eigenes. Dann merkte ich, dass ich genug Material für ein Buch hatte. Und, ja, ich benutze es tatsächlich immer noch und ich habe den Eindruck, dass es bei den Studenten gut ankommt.“

Man muß dem Phaidon Verlag sehr dankbar dafür sein, dass er dieses Buch produziert hat. Wirklich gute Bücher setzen sich ja immer erst im Laufe der Zeit durch. Anfängliche Verkaufserfolge und tatsächliche Wirkkraft sind bei Büchern so unterschiedlich wie Schulnoten etwas über Charakter aussagen.

Ich glaube, dass dieses Buch von der Aussagequalität her auf derselben Ebene anzusiedeln ist wie „The Mind´s Eye“ von Henri Cartier-Bresson. Cartier-Bresson hat in seinem Essay über den entscheidenden Augenblick das Wesen des richtigen Augenblicks für ein gutes Foto herausgearbeitet und Stephen Shore hat mit der Schule des fotografischen Sehens ein herausragendes visuell-gedankliches Buch umgesetzt.

Ich vergleiche beide Bücher, weil in meinen Augen beide Bücher eine Gemeinsamkeit haben: sie zeigen den Weg zum Blick oder wie ein Bild im Kopf entsteht. Der eine zeigt, wie man eine Situation erleben und den richtigen Moment darin erkennen und nutzen kann, der andere vermittelt den Blick für das bewusste Entstehen des Fotos.

Dies wiederum darf man nicht mit den beiden Autoren als Fotografen verwechseln. Cartier-Bresson „sieht“ völlig anders als Shore und deshalb sind für beide auch die Ausschnitte und Gestaltungen anders. Aber der Weg zu dem jeweiligen Blick ist der Weg, den beide in ihren Büchern beschreiben. Die Blicke selbst sind verschieden.

Es sind beides Bücher, die wirklich etwas durch die Person des jeweiligen Autors bedingt herausarbeiten und erlebbar machen, obwohl beide Fotografen aus völlig verschiedenen Richtungen stammen. Und es sind beides Bücher, die sich durch das Motto „Weniger ist mehr“ auszeichnen.

Das Buch von Stephen Shore handelt vom fotografischen Sehen mit dem Auge als Instrument und mit dem Kopf als wichtigstem Steuermittel. Kameras spielen in dem Buch von Stephen Shore keine Rolle. So entsteht ein zeitloses Buch für die geistige Vorarbeit und Nacharbeit in der Fotografie, egal ob in der Kunst- oder in der Reportagefotografie.

Dieses Buch wird auch nie langweilig. Denn jedes Mal ruft es – und sei es nur beim Blättern – die Bedingungen fotografischer Arbeit hervor. Und dies mit einer Leichtigkeit, die das „Lesen“ des Buches zu einer wahren Wonne machen. Es ist ein herausragendes Buch.

Stephen Shore

Das Wesen der Fotografie

ISBN-13: 9780714849904
ISBN-10: 071484990

One thought on “Stephen Shore, Das Wesen der Fotografie

  1. Ich habe das Buch erst kürzlich empfohlen bekommen, es gleich bestellt und finde, es gehört wirklich zu den besten Büchern über Fotografie, die ich bisher gelesen habe. Danke auch für den Tipp mit Cartier-Bresson, das werde ich definitiv auch noch lesen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert